1.1 Abd al-Muttalib, der Großvater Muhammads

Als einst Abd al-Muttalib ibn1 Haschim schlief, wurde ihm in einer Erscheinung befohlen, den Brunnen Zamzam wieder aufzugraben. Die Djurhumiten hatten ihn bei ihrer Auswanderung von Mekka verschüttet.

Dies war derselbe Brunnen, aus dem Allah einst Isma'il hatte trinken lassen, als er noch klein war und Durst hatte. Seine Mutter hatte Wasser gesucht und keines gefunden. Sie stellte sich auf den Hügel Safa und betete um Wasser für Isma'il. Auf dem Hügel Marwa bat sie nochmals um Wasser. Da sandte Allah den Engel Gabriel. Er drückte eine der Fersen Isma'ils in die Erde – und schon zeigte sich Wasser! Seine Mutter hörte Stimmen wilder Tiere. Sie war besorgt um ihren Sohn, lief zu ihm und fand ihn, wie er auf dem Gesicht lag, mit der Hand Wasser schöpfte und trank. Da reinigte sie die Quelle vom Sand.2

1.2 Der Streit um den Brunnen Zamzam in Mekka

Als eines Tages Abd al-Muttalib im Heiligtum schlief, hatte er eine Erscheinung und erhielt dabei die Weisung, den Zamzam aufzugraben. Er hat dies folgendermaßen erzählt: “Als ich einst an der Mauer des Heiligtums schlief, trat jemand zu mir und sagte: ‚Grabe Tayba (die Gute) auf!’ Ich fragte: ‚Was ist Tayba?’ Hierauf verschwand die Erscheinung. Am folgenden Tage als ich wieder auf meiner Lagerstätte schlief, kam die Erscheinung von neuem und sagte: ‚Grabe Barra (die Reine) auf!’ Ich fragte: ‚Was ist Barra?’ Die Erscheinung verschwand wieder. Am dritten Tage begegnete sie mir nochmals mit den Worten: ,Grabe al-Madnuna (die Kostbare) auf!’ Ich fragte: ‚Was ist Madnuna?’ Die Erscheinung entfernte sich wieder. Am vierten Tage erschien mir abermals jemand, der mir sagte: ,Grabe Zamzam auf. Ich fragte: ,Was ist Zamzam?’ Mir wurde geantwortet: ‚Die, welche nie ausgeschöpft und nie wasserarm wird, welche den geehrten Pilger tränkt. Sie liegt zwischen Unrat und Blut bei dem Gekrächze des starken Raben, bei dem Ameisennest.’”

Als somit der Zustand der Quelle und ihr Ort näher bezeichnet waren und Abd al-Muttalib keinen Zweifel mehr an der Wahrheit des Hinweises hegte, nahm er am nächsten Tage sein Hackeisen und fing an zu graben. AI-Harith – damals sein einziger Sohn begleitete ihn.

Als der Brunnen allmählich zum Vorschein kam, pries er Allah. Nun eilten auch die Quraischiten herbei. Sie merkten, daß sein Unternehmen geglückt war und sagten: “Dieser Brunnen gehört unserem Stammvater Isma'il. Wir haben alte Rechte auf ihn. Du mußt uns einen Anteil daran geben.” Abd al-Muttalib weigerte sich jedoch und entgegnete: Er ist mir geschenkt worden! Er gehört mir allein!” Sie erwiderten: “Gib uns unser Recht, oder wir verklagen dich!”

“Gut, wählt einen Schiedsrichter!” Sie wählten eine Wahrsagerin aus dem Stamme Sa'd Hudham, die auf den Höhen Syriens wohnte. Abd al-Muttalib ritt zu ihr. Einige Söhne Abd Manafs begleiteten ihn. Auch die Quraischiten schickten aus jedem Stamm Abgesandte. Als sie sich in der Wüste zwischen Hidjaz und Syrien befanden, in der es damals keine Wasserstellen gab, ging Abd al-Muttalib das Wasser aus. Er und seine Leute waren dem Verdursten nahe. Sie baten die Abgesandten der Quraischiten um Wasser. Diese verweigerten es ihnen jedoch und sagten: “Wir sind hier in der Wüste. Es könnte uns genauso ergehen wie euch.” Abd al-Muttalib beriet mit seinen Leuten, was zu tun sei. Sie antworteten: “Du hast zu befehlen. Wir können dir nur gehorchen.” Da sagte er: “Meine Meinung ist, daß ein jeder von uns,

so lange er noch bei Kräften ist, sein Grab selbst aushebe. Immer, wenn einer von uns stirbt, werden die noch Lebenden ihn in sein Grab legen und bedecken, bis der Tod den Letzten von uns heimsucht. Es ist in der Tat besser, wenn wir statt der ganzen Karawane umkommen.” Seine Gefährten stimmten ihm zu. Jeder grub sich sein Grab und wartete auf den Tod. Da sagte Abd al-Muttalib plötzlich: “Bei Allah, es ist doch eine Schwäche unsererseits, wenn wir uns tatenlos dem Tode ausliefern und nicht unser Leben zu retten suchen. Vielleicht zeigt uns Allah irgendwo Wasser. Brecht auf! Da brachen sie wieder auf, und die anderen Quraischiten sahen ihnen zu.

Abd al-Muttalib bestieg sein Kamel und ritt voran. Alsbald sprang unter den Hufen seines Kamels frisches Wasser hervor. Abd al-Muttalib und seine Gefährten priesen Allah, stiegen ab, tranken und füllten ihre Schläuche. Nun rief Abd al-Muttalib auch die übrigen Quraischiten zu der neuen Quelle und sagte: “Allah hat uns getränkt. Trinkt auch ihr und füllt eure Gefäße!” Als sie es getan hatten, sagten sie: “Bei Allah, das Urteil ist schon gegen uns gefällt. Wir machen dir Zamzam nicht mehr streitig; denn der, welcher dir in dieser Wüste Wasser gegeben hat, hat dir auch Zamzam geschenkt. Fahre fort, die Pilger zu tränken.” Abd al-Muttalib kehrte daraufhin nach Mekka zurück und die anderen mit ihm, ohne die Wahrsagerin aufgesucht zu haben.

1.3 Abd al-Muttalibs Gelübde

Es ist überliefert – doch Allah allein weiß, wie es sich wirklich verhielt –, daß Abd al-Muttalib beim Graben des Zamzambrunnens von den Quraischiten angefeindet wurde. Da tat er folgendes Gelübde: Falls ihm zehn Söhne geboren werden sollten und sie ein Alter erreichen würden, in dem sie ihm beistehen könnten, wollte er einen von ihnen an der Ka'ba Allah opfern.3
Als dann in der Tat zehn Söhne herangewachsen waren und ihm Schutz bieten konnten, machte er sie mit seinem Gelübde bekannt und forderte sie auf, sich der Erfüllung zu unterwerfen. Sie waren dazu bereit und fragten, in weicher Weise dies geschehen solle. Da sagte er: “Jeder schreibe seinen Namen auf einen Pfeil und gebe ihn mir.” Mit diesen Pfeilen ging er zum Götzen Hubal, der auf dem Brunnen im Innern der Ka'ba aufgestellt war. Dort brachte man die Opfer für das Heiligtum dar. Hubal hatte sieben Pfeile. Jeder war mit einer Inschrift versehen. Auf einem Pfeil stand “Sühne”. War man uneinig, wer Sühne zu bezahlen hatte, so mußte derjenige es tun, für den dieser Pfeil gezogen wurde. Auf dem zweiten Pfeil stand “ja” und auf dem dritten “nein”. War man im Zweifel, ob man etwas tun oder unterlassen sollte, so entschied der mit “ja” oder “nein” gewählte Pfeil. Es gab auch einen Pfeil, auf dem “Wasser” vermerkt war. Wurde er gezogen, so sollte man nach einer Quelle graben. Schließlich gab es da noch drei weitere Pfeile. Auf dem einen stand “von euch”, auf dem anderen “verbleibend” und auf dem dritten “nicht von euch”. Wollten die Beduinen (Araber) eine Beschneidung vornehmen, eine Ehe schließen, einen Toten beerdigen oder zweifelten sie an der Herkunft eines Mannes, so führten sie ihn zu Hubal und brachten dem, der die Lose zog, hundert Dirham und ein Opferkamel. Sie sagten dann – wobei sie den Mann vor Hubal stellten – “Du, unser Gott, hier steht der Unbekannte, über den wir dies und jenes wissen möchten. Tue uns die Wahrheit über ihn kund!”

Nun ließen sie das Los ziehen. Kam dabei der Pfeil heraus, auf weichem “von euch” stand, so wurde der Unbekannte als einer der Ihrigen betrachtet. Kam der Pfeil mit “nicht von euch” heraus, so wurde er als Bundesgenosse angesehen. Kam aber der Pfeil mit dem Wort “verbleibend” heraus, so hatte der Betreffende in seinem bisherigen Zustand, ohne Anspruch auf Verwandtschaft oder Bundesgenossenschaft, zu bleiben. In anderen Fällen, in denen eine Antwort mit “ja” oder “nein” erwartet wurde, pflegten sie, wenn sie gern so gehandelt hätten, der Pfeil aber mit “nein” entschied, bis zum nächsten Jahr zu warten und dann die Pfeile aufs Neue ziehen zu lassen, um endlich in Übereinstimmung mit dem Los handeln zu können.

Abd al-Muttalib ging nun zu dem Wahrsager, der die Pfeile zog, und teilte ihm sein Gelübde mit. Jeder seiner Söhne hatte ihm einen Pfeil mit dem eigenen Namen darauf gegeben. Der Vater forderte nun den Mann auf, einen der Pfeile zu ziehen. Das Los traf Abd Allah, den Vater des Gesandten Allahs. Er war der Lieblingssohn Abd al-Muttalibs und obendrein der Jüngste. Als nun das Los Abd Allah getroffen hatte, nahm Abd al-Muttalib sein Schwert und ging mit Abd Allah zu den Götzen ‘Isaf und Naila, um ihn dort zu opfern. Da stürzten die Quraischiten aus dem Rathaus und riefen: ,Was willst du tun, Abd al-Muttalib?” – “Ich will ihn mit dem Halsschnitt schlachten!”4
Da antworteten seine Söhne und die übrigen Quraischiten: “Bei Allah, du schlachtest ihn nicht ohne Grund. Tust du es dennoch, so wird jeder seinen Sohn bringen, um ihn zu opfern. Wie aber sollen dann die Menschen bestehen?” Auch al-Mughira ibn Abd Allah, ein Onkel Abd Allahs sagte: “Bei Allah, du opferst ihn nicht, bis du uns einen ausreichenden Grund angibst. Lieber wollen wir ihn mit unserem Gut auslösen.”
Dann fuhren seine Söhne und die übrigen Quraischiten fort: “Tu es nicht! Geh mit ihm nach Hidjaz. Dort lebt eine Wahrsagerin, die einen ihr gehorsamen Geist hat. Befrage sie, dann wird deine Angelegenheit recht entschieden werden. Befiehlt sie dir, ihn zu opfern, so tu es. Sagt sie dir etwas anderes, wodurch dir und ihm geholfen wird, so folge ihr!”
Sie reisten also nach Medina und fanden die Wahrsagerin in Khaybar. Abd al-Muttalib teilte ihr sein Gelübde mit, die Entscheidung des Loses und seine Absicht, seinen Sohn zu opfern. Da befahl sie: “Verlaßt mich jetzt, bis mein Geist mich besucht und ich ihn fragen kann.” Sie verließen sie, und Abd al-Muttalib betete zu Allah. Als sie am folgenden Morgen wieder zu ihr kamen, sagte sie: “Es ist mir Kunde geworden. Was ist bei euch die Sühne für einen Menschen?” Sie antworteten: “Zehn Kamele.” Sie erwiderte: “Geht in eure Heimat zurück, stellt Abd Allah auf die eine und zehn Kamele auf die andere Seite und lost zwischen ihnen. Kommt der Pfeil mit den Kamelen heraus, so opfert sie statt seiner. Er ist dann gerettet und euer Herr befriedigt. Kommt aber der Pfeil mit Abd Allah heraus, so bringt noch zehn weitere Kamele und so fort, bis der Pfeil mit den Kamelen gezogen wird.”
Sie kehrten hierauf nach Mekka zurück und beschlossen, dieser Weisung zu folgen. Abd al-Muttalib betete wieder zu Allah vor Hubal, dann brachten sie Abd Allah und zehn Kamele herbei und losten. Als das Los Abd Allah traf, brachten sie zehn weitere Kamele. Aber das Los fiel immer auf Abd Allah, bis schließlich hundert Kamele auf der anderen Seite standen. Da kam der Pfeil mit den Kamelen heraus. Die Quraischiten und die übrigen Anwesenden stellten fest: “Nun ist die Sache entschieden, Abd al-Muttalib! Dein Herr ist befriedigt!” Abd al-Muttalib soll aber, wie man hört, geschworen haben, nicht zu ruhen, bis noch dreimal gelost werde. Erst als das Los noch dreimal auf die Kamele fiel, wurden sie geschlachtet, und es stand jedem frei, davon zu nehmen, soviel er wollte.

 


Footnotes
1 "Ibn", das heißt übersetzt: Sohn des.
2 Vgl. 1. Mose 21,9-21 (Die Vertreibung Hagars und Ismaels).
3 Dieser Brauch des Kinderopferns ist urheidnisch (vgl. Richter 11, 30-40).
4 Vergleiche 1. Mose 22,1-19 Auch Isaak sollte geopfert werden.